„Gedankenkeime“: Wie sich Gedanken viral verbreiten

Der Youtuber CGPGrey, bekannt für diverse Erklärvideos zu populären und popkulturellen Fragestellungen, hat ein interessantes Video veröffentlicht, das einen interessanten Denkanstoß beinhaltet. In dem Animationsfilm wird dargestellt, wie sich Ideen, Gedanken oder Meinungen viral verbreiten. Spannend ist dabei der Ansatz, der diese Gedanken mit Krankheitserregern gleichsetzt, zeigt, wie diese sich verbreiten und mutieren und irgendwann auch verenden. Ein Video, das in „postfaktischen“ Zeiten vielleicht aktueller ist denn je.

Die Thesen des Videos

CGPGrey unterstellt, dass alle Arten an Informationen wie Katzenbilder, Nachrichten, lustige Gifs und Videos um den gleichen Platz im Gehirn buhlen. In der Abstraktion ist jede dieser Informationen ein Gedanke, der genauso wie ein Krankheitserreger einen Wirt benötigt, das Gehirn als Nährboden braucht. Ohne Gehirne ist ein Gedanke nicht überlebensfähig.

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https://www.youtube.com/watch?v=rE3j_RHkqJc

Diese Gedanken nun verbreiten sich durch die Kommunikation des Wirts mit anderen Menschen und reproduzieren sich in den Gehirnen der Kommunikationsempfänger. Gerade so wie eine Erkältung sich durch Tröpfcheninfektion beim Anniesen ausbreitet. Auf den sozialen Medien nun setzt man sich dem „geistigen Niesen“ vieler anderer aus. Die „Gedankenkeime“ („thought germs“) dringen in das Gehirn ein, temporär oder permanent. Durch Teilen eines Beitrags verbreitet man den Gedanken weiter.

Als Pendant zur Grippe-Epidemie nennt der Filmemacher ein Katzenvideo mit perfektem Titel. Über Emotionen machen diese Gedankenkeime das Gehirn zugänglich und regen die weitere Verbreitung an. Auch Clickbaits wie „Die Top 7 XYZ“ oder „Das schockierende Geheimnis hinter XYZ“ sollen sich auf diese Art verbreiten. Traurige Nachrichten sollen demnach nicht so gut funktionieren wie lustige. Perfekt aber seien Gedanken, die einen aufregen: „Ärger umgeht dein geistiges Immunsystem“.

Geistige Hygiene sei sehr wichtig und dafür bedürfe es einem Bewusstsein der Schwachstellen des Gehirns. Dazu gehört auch, dass Bewusstsein darüber, dass jeder Gedankenkeim im Internet mutieren kann. Durch Veränderung, Auslassung oder Hinzufügen von Informationen verändert sich der Keim und kann virulenter werden. Bilder können durch Bildausschnitte, Photoshop, neue Titel oder hinzugefügte Kommentare verändert werden. Das Internet als Medium sei dabei ein besonders starker Multiplikator.

gedankenkeime-brain

Für lustigen Content sei das unproblematisch, aber mit „wütenden Keimen“ alles andere als großartig. Anders als normale Keime, die irgendwann ausbrennen, befeuern sich wütende Keime ständig gegenseitig, sobald sie auf entgegen gerichtete Ansichten treffen. Es kommt zur Diskussion, die das Nachdenken über diese Ideen befeuert. Diese Streit-Keime löschen einander jedoch oft nicht gegenseitig aus, sondern kooperieren bei einer gemeinsamen Verbreitung beider Ideen, indem sie immer mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wie Schmetterlinge und Blumen bestäuben und bedingen sich die Populationsgrößen gegenseitig.

Letzten Endes unterstellt das Video auch die These, dass Gruppen, die groß genug sind, irgendwann aufhören, auf einer faktischen Ebene miteinander zu diskutieren und mehr untereinander auf einer emotionalen Ebene darüber sprechen, wie wütend sie die andere Gruppe macht. Jeder solle daher für ein „gesundes“ Denken darauf achten, dass es Gedanken gibt, die schon durch viele Gehirne gewandert sind, sich dabei verstärkt haben und einen dort treffen können, wo man am schwächsten ist.

Gedankliche Einordnung des Videos

Ein solches Video ist zunächst überraschend, weil man es auf dem Kanal, der sich mit philosophischen oder gesellschaftstheoretischen Themen sonst eher im Rahmen von popkulturellen Zusammenhängen beschäftigt, nicht erwartet hätte. Wirklich neu ist die Idee natürlich nicht. Nicht umsonst spricht man im Internet bei besonders erfolgreichen Inhalten ja auch davon, dass diese „viral“ gegangen sind. Interessant ist die Illustration dennoch allemal, weil hier die Gedanken verdinglicht, also manifestiert und losgelöst vom Denkenden betrachtet werden, der am Ende nur noch ein reines Trägermedium und ein Multiplikator ist. Das Konzept der „Gedankenkeime“ ist anschaulich und lässt sich ebenso auf die Verbreitung von Katzencontent wie auf die derzeitige Fake News Problematik anwenden.

Interessant finde ich die Loslösung des Gedankens von der Person des Denkenden. Der Gedanke existiert somit außerhalb des individuellen menschlichen Geistes auf einer Metaebene. Hier fehlt mir noch etwas der Aspekt der Abspeicherung von Gedanken in den Erinnerungen sowie auf virtuellen oder physischen Datenträgern bis hin zum künstlerischen Werk umfasst. In der Realität „sterben“ Gedankenkeime nicht schon, wenn sie nicht mehr gedacht werden sondern erst wenn die letzte Kopie untergegangen ist. An dieser Stelle hinkt die Analogie der Keime auch etwas. Auch die Entstehung von Gedanken/Ideen lässt sich nicht gänzlich in dieser Erzählweise abbilden. Trotzdem ist die Verwebtung angenehm und allgemeinverständlich veranschaulicht.

In die Analogie der Gedankenkeime fallen auch Nachrichten, Ideologien und übersteigerte Weltanschauungen wie Rassismus oder Fanatismus, bei denen man tatsächlich von Krankheiten sprechen möchte. Durch bewusste oder unbewusste Manipulation und durch unbedachte Verbreitung wird aus Information Falschinformation und aus faktisch postfaktisch. Umso wichtiger ist das Erlernen einer umfassenden Medien- und Kommunikations-Kompetenz, die dem Empfänger eigene Wahrnehmungsfilter und solche des Senders bewusst macht. Da sind wir als Gesellschaft sicherlich noch lange nicht am Ziel.